Nie wieder ist jetzt!

Zum Gedenken an den 17.3.1945 – Das Ende von Alt-Eitorf.

„Heut wird wohl kein Angriff mehr kommen; die kritische Zeit ist bereits vorbei. Und übrigens glaube ich nicht, dass noch ein weiterer Bombenteppich auf Eitorf gelegt wird. Er wäre ja sinnlos.“ Damit ist der Bürgermeister Anton Ohligs, der seine außergewöhnliche Unruhe hinter einer starken Betriebsamkeit zu verbergen versucht zusammen mit Polizeiwachtmeister Schäfer auch schon wieder aus dem Keller verschwunden und auf dem Weg nach oben ins Rathaus. Nichtsahnend, dass er soeben seine letzten Worte gesprochen hatte.

Es ist 17:44 Uhr. Wir Männer vom Roten Kreuz haben Tag und Nacht Bereitschaftsdienst. Zusammengekauert hocken wir im Aktenraum des langgestreckten Rathauskellers, der zum besseren Schutz gegen die Bomben zusätzlich mit Kiefernstämmen abgestützt ist. Auf einem kleinen Tisch unserer „Informations- und Kommandozentrale“ steht ein Telefon. Zwei flackernde Kerzen bringen notdürftig Licht ins Dunkle. Anwesend sind neben den Sanitätern Josef Deutsch, Peter Fuchs und Josef Ersfeld auch der Gemeindeangestellte Phillip Schmitz und der junge Heinz Litterscheid, welcher den Kurierdienst versieht. Alle Gesichter verraten Übermüdung und Niedergeschlagenheit. Das Gespräch dreht sich um die Lage – wie immer: Niemand weiß etwas Genaues. Nur, dass die Entscheidung nahe ist, das fühlen alle. Wie mag sie ausfallen?

Ganz leise betritt Frau Sindern, die verheiratete Tochter des Bürgermeisters den Raum. Sie wendet sich der Ecke zu, wo ihr kleiner Junge in den vergangenen Nächten geschlafen hat und packt Sachen zusammen. Ich glaube, es ist Kinderwäsche.

…In diesem Augenblick bricht ganz unvermittelt etwas über uns herein, was man in seiner Furchtbarkeit nicht schildern kann. Es geht bis an die Grenzen dessen, was die Sinne fassen können und der Mensch zu ertragen imstande ist. Ein entsetzlicher Druck, Splittern, Rummeln. Für winzige Bruchteile einer Sekunde glaube ich eine Lichtempfindung zu haben wie von einem sprühenden Schweißbrenner. Dann arbeiten meine Gedanken wieder ganz klar. Aufrechtstehend halte ich mich an einem Abstützpfosten fest. Ich glaube, er tanzt auf und ab. Wir liegen unter einem Bombenteppich und über uns stürzt der Bau zusammen. Eigentliche Detonationsgeräusche nehme ich nicht wahr; es ist ein fast schmerzhaftes Empfinden, dass durch den Körper schießt, fast wie ein Wechselstrom. Ist das der Tod? Aber da hört das Rummeln plötzlich auf. Totenstille. Mit beiden Händen fahre ich in der Finsternis stehend durch mein Gesicht und rufe laut: „Ich lebe noch!“ -Fremd, resonanzlos klingt meine Stimme. Immer noch bleibt es still um mich her. Ob die Menschen im Raum tot sind?

Die Luft ist staubgeladen und so sauerstoffarm, dass ich mit offenem Mund atmen muss. Mit jedem Atemzug gelangen große Mengen von scharfen Partikeln tief in meine Luftwege, doch ich spüre keinen Hustenreiz. Da höre ich die Stimme des Sanitätskameraden Josef Deutsch: „Es brennt irgendwo.“ Wahrhaftig, es riecht nach verbranntem Holz oder Papier. Der Geruch wird stärker. Sind wir eingeschlossen, verschüttet? Frische Luft muss in den Raum, darum strebe ich danach, das hochgelegene Kellerfenster zu erreichen, um es zu öffnen. Tastend merke ich, dass allerlei Durcheinander in dem Raum ist. Auf dem Boden liegt ein Körper. Da dass Kellerfenster von draußen durch einen Berg an Schutt verschlossen ist, beginne ich, die Steine vorsichtig wegzuräumen. Von oben rieselt warmes Wasser auf meinen Nacken. Aber da rutscht das Geröll nach und ich kann wegen der dicken Verbandstaschen an meinem Gürtel weder vor noch zurück. Meine Lage ist unangenehm, ja schmerzhaft; aber die Luft ist besser und oben zwischen den Steinen hindurch ist ein Stückchen Himmel zu sehen.

Draußen ist es still -stiller als ein Friedhof. Plötzlich gellt eine Frauenstimme: „Mein Kind! Mein armer Junge!“ Dann wieder Grabesstille. Aber dann höre ich Menschen nahen, sie beginnen im Schutt zu graben, ganz nahe bei mir. Unseren Bereitschaftsführer Nüchel erkenne ich an seiner Stimme. Die Sorge um seine Leute hat ihn hierhergetrieben. Er weiß, wo er uns zu suchen hat und ruft meinen Namen. „Noch ein wenig Geduld!“ mahnt er. Zu meinem großen Erstaunen höre ich Josef Deutsch da draußen rufen: „Durch den Heizkeller gehen! Dort kannst Du durchkommen!“

Ich versuche mich aus der Enge des Fensterschachts zu befreien, es gelingt erst nach großer Anstrengung und ich plumpse wie ein Sack hinunter auf den Kellerboden. Dort stöhnt jemand. Ich bin außerstande, ihm zu helfen. Da sehe ich einen Lichtschimmer. Mit letzter Kraft taste ich mich dorthin durch und die Kameraden ziehen mich hinaus. Total zerrissen und wie aus einem Zementsack gekrochen stehe ich da. Die Reaktion setzt ein; der alte Turm ist umgestürzt, die Apotheke fort, das Rathaus zerstört. Wie durch einen Schleier sehe ich das alles aber weiter vermag ich nicht zu denken. Menschen reden auf mich ein, ohne dass ich ihren Worten richtig zu folgen vermag. Wie ein Automat gehe ich meinen Weg. Zuhause unvorstellbare Freude. Ich muss schlafen.

Der Text stammt vom Augenzeugen und Heimatforscher Josef Ersfeld. Er sammelte akribisch und rastlos ab September 1939 bis zu den letzten Kriegstagen 1945 zahllose Berichte und Fotos von Eitorfer Zeitzeugen und veröffentlichte sie 1950 in der „Eitorfer Kriegschronik.“

Ein Buch, dass trotz seines Alters partout keinen Staub ansetzen will, denn die persönlichen Geschichten der kleinen unbeteiligten Leute vom Lande erzählen ohne jede Politik die beklemmende Wahrheit über den Krieg. Nämlich wie zerstörerisch und menschenverachtend er tatsächlich ist. Das galt damals und das gilt heute immer noch ganz aktuell: Nie wieder Krieg! Nie wieder ist jetzt!

 

Heimatverein Eitorf e.V.

  1. März 2024